Für viele Frauen sind Tränen im Büro ein ganz heißes Eisen. Praktisch jeder Karriereratgeber für Frauen hat dazu ein eigenes Kapitel. Die Ratschläge, soweit man sie denn so nennen kann, tendieren in eine ganz klare Richtung: Es ist tunlichst zu vermeiden, wenn Frau noch irgendwas in dem Laden werden will.
Deshalb nenne ich sie auch nicht Ratschläge, sondern eher Super-Gau-Vermeidungsstrategien beziehungsweise „DAS DARF IHNEN AUF KEINEN FALL PASSIEREN!“.
Ich halte das alles nicht für hilfreich. Denn ich finde, dass solche Aussagen Frauen eher behindern, als stärken.
Obwohl sich die Wissenschaft noch nicht ganz einig ist, welche Funktion Tränen jetzt denn ganz genau haben, so ist man sich doch einig, dass es sich nicht um ein rein biologisches Phänomen handelt, sondern Tränen u.a. der Kundgebung sowie auch der Verarbeitung von Emotionen dienen. Und man ist sich auch einig, dass der Mensch die einzige Spezies ist, die weint.
Jetzt ist es so, dass in unserer Gesellschaft für Frauen und Männer unterschiedliche „Regeln“ das Weinen betreffend gelten. Dürfen wir als Babys noch alle gleichermaßen den Tränen freien Lauf lassen, so wird Jungs recht schnell das Weinen abgewöhnt. Sätze wie „Jungs weinen nicht“ und „Indianerherz kenn keinen Schmerz“ haben schon alle von uns gehört. Hier tut sich also eine Schere auf, bis irgendwann Weinen nicht als etwas zutiefst Menschliches, sondern als etwas rein Weibliches angesehen wird. Und hier fängt das Problem an: In unserer Gesellschaft wird leider noch oft Männlichkeit als Abwesenheit von Weiblichkeit definiert. Wenn jetzt Weinen etwas Weibliches ist, dann darf Mann, will er denn ein „Echter“ sein, nicht weinen.
Das ist natürlich Quatsch – und leider absolute Normalität.
Warum ist mir das Thema wichtig? Weil ich bisher noch in jeder Firma, in der ich angestellt war, Tränen vergossen habe. Und seit ich selbst Vorgesetzte bin, sind mir schon ziemlich viele Mitarbeiterinnen, Kollegen sowie Kolleginnen gegenübergesessen, die in meinem Beisein geweint haben. Das konnten Tränen der Freude sein, Tränen der Trauer, wenn ein Mensch einen Todesfall im nahen Umfeld verkraften musste oder auch Tränen der Wut. Einmal mussten ich und mein Team mit ansehen, wie eine Nachbarabteilung geschlossen wurde und Kollegen, die zum Teil mehr als 10 Jahre im Unternehmen waren, gehen mussten. Wem da nicht zum Heulen zu Mute ist, der hat wohl ein Herz aus Stein.
Zugegebenermaßen sind diese Tränen jedoch noch leichter zu „ertragen“ - schließlich zeugen sie von Mitgefühl und es geht ja nicht um einen selbst. Schlimmer wird es schon, wenn es Tränen sind, weil man angegriffen wurde. Und das kann ja auf dem Schlachtfeld Büro schnell mal passieren. Wenn eine Frau im Büro weint und es bekommen schlimmstenfalls noch andere mit, dann wird sie sich zu fast hundert Prozent dafür schämen. Denn sie tut etwas, dass man(n) nicht tut und wenn, dann nur heimlich. Sie zeigt Gefühle und Verletzlichkeit, wo nur Stärke und Härte gezeigt werden darf. Sie bringt mit diesem Zeigen Ihrer Gefühle das Publikum in Kontakt mit den eigenen (oft unterdrückten) Gefühlen – daher auch das Wort „fremdschämen“. Und wenn jetzt diese ganzen Ratgeber frau noch sagen „Das darf dir GAR NIE passieren!“, dann wird das Ganze nur noch schlimmer.
Deshalb habe ich eine Botschaft: Stimmt nicht! Es passiert, es ist menschlich und somit normal und ja, man kann trotzdem seine Ziele erreichen.
Woher ich das weiß? Weil ich ein Beispiel dafür bin. Und weil all diese Kolleginnen und Kollegen, die ich schon habe Weinen sehen, auch noch auf Ihren Posten sind, vom Umfeld akzeptiert und Erfolg haben. Deshalb.
Unternehmen können Kriegsschauplätze sein, da treffen verletzte innere Kinder aufeinander und bekriegen sich – es kann brutal werden. Jetzt plädiere ich natürlich nicht dafür, dass man jeder Gefühlsregung sofort freien Lauf lässt, oder, Gott bewahre, die eigene Verletzlichkeit noch beim „feindlichen Gegenüber“ zur Schau stellt. Das ließe Tür und Tor offen für neue Angriffe und denen muss und kann man auch adäquat begegnen.
Nein, mir geht es darum, wenn das gefühlt unaussprechliche geschehen ist, sich zu erinnern, dass man eben nur ein Mensch ist – und wir damit alle im selben Boot sitzen Auch, wenn es vielleicht nicht alle wahrhaben wollen. Und dann aufzustehen, sich den Staub aus den Kleidern zu klopfen und mit hoch erhobenen Haupt weiterzumachen. Denn eines ist auch klar – Ihre Würde kann Ihnen niemand nehmen. Die Person, die entscheidet, ob sie sie weggibt, sind immer Sie.
Oder, um Charles Dickens zu zitieren:
„We never need to be ashamed of our tears“
In diesem Sinne!
Ihre Astrid Winkeler